Ein psychologischer Ansatz für Transite und Progressionen
Dieser Artikel ist
ein Ausschnitt eines Seminars, das am 8. Juni 1996 am
Regents College, London im Rahmen des Seminarprogramms
des Centre for Psychological
Astrology stattfand.
Das Wesen von Vorhersagen
Wir haben es im Folgenden mit einem anspruchsvollen
Thema zu tun: Wie interpretiert man Transite und Progressionen
aus psychologischer Sicht? Ich möchte mit der Aussage
beginnen, dass ich nicht im Geringsten den Wert und
die lange Tradition der vorhersagenden Astrologie infrage
stelle - allerdings dürfte Ihnen allen die innerliche
Dimension unseres Themas klar sein. Beides schließt
sich auch nicht aus. Psychologisch heißt nicht
nur "innen". Zu viele von uns haben die Erfahrung
von genauen, konkreten Vorhersagen gemacht, als dass
man behaupten könnte, dass die Planeten in keinem
Zusammenhang zur äußeren wie zur inneren
Welt stehen oder dass in keiner Situation Prophezeiungen
möglich wären.
Vor vielen Jahren hielt ich ein Seminar,
welches dann umgeschrieben wurde zum Buch Jenseits von
Saturn. Ich war dabei auf das Horoskop der Sowjetunion
eingegangen und hatte eine Vorhersage über die
Zukunft des Landes gemacht. Es war ein Schuss ins Blaue,
weil ich zu dieser Zeit nicht viel über die Feinheiten
der Mundanastrologie wusste. Meine ziemlich naive Vorhersage
gründete auf der Tatsache, dass sieben Jahre später
Pluto im Transit auf die Sonne der Sowjetunion kommen
würde. Ich hatte beobachtet, dass es bei jedem
wichtigen Plutotransit zur Skorpionsonne zu Änderungen
in der Führung des Sowjetreiches gekommen war.
In mundanen Begriffen ist das eine Selbstverständlichkeit
- die Sonne steht dort, neben anderem, für die
Regierung eines Landes.
Der Grund, warum ich den Zusammenbruch
und nicht nur ein normales politisches Machtgerangel
erwartete, lag darin, dass Pluto wesentlich stärkere
Auswirkungen als die anderen äußeren Planeten
hat. Er macht reinen Tisch und lässt nichts von
der ursprünglichen Form oder Struktur übrig.
Es gab noch weitere Transite - zum Beispiel die Konjunktion
von Uranus, Neptun und Saturn im ersten Steinbockdekanat
kurz vor der Venus der Sowjetunion im 4. Haus -, die
nahe legten, dass der bevorstehende Zusammenbruch etwas
von der Aufkündigung einer ehelichen Gemeinschaft
hatte. Es handelte sich um eine Desintegretion von innen
heraus, nicht von außen; all die Satellitenländer
baten um die Scheidung. So las ich es zu der Zeit, und
nichts wies 1982 auf die bevorstehenden Ereignisse hin.
Ein neuer Führer war natürlich eine Möglichkeit,
ein vollständiger Zusammenbruch aber undenkbar.
In den folgenden sieben Jahren dachte ich nicht weiter
darüber nach. Und dann kam alles wie vorhergesagt.
Also: Ab und zu treffen Astrologen genaue Prognosen.
Ich bin sicher, auch Sie haben diese Erfahrung gemacht.
Wie dem auch sei - sich nur auf die prognostische
Seite der Astrologie zu konzentrieren ist wie ein Arzt,
der sich nur mit einem körperlichen Symptom beschäftigt,
ohne den Menschen in seiner Gesamtheit und die Beziehung
zwischen Körper und Psyche in Betracht zu ziehen.
Über die Jahre bin ich zu der Überzeugung
gekommen, dass vieles von dem, was uns in Begriffen
von Transiten und Progressionen als schicksalhaft erscheint,
in keiner Weise schicksalhaft ist. Es sind unsere unbewussten
Komplexe, die hier am Werk sind. Als Individuen ebenso
wie als Kollektiv tragen wir, ohne es zu wollen, zu
Situationen bei oder erschaffen sie sogar, bei denen
Themen aus unserem Inneren zum Ausdruck kommen. Wir
haben dann womöglich versucht, diesen Themen zuvor
aus dem Weg zu gehen oder sie sind einfach reif und
kairos, der richtige Moment, ist jetzt gekommen.
Es wäre töricht anzunehmen,
alle Situationen des Lebens wären von uns erschaffen,
viele sind es nämlich nicht. Man kann nicht sagen,
dass sechs Millionen Juden besondere Transite oder Progressionen
hatten, die bedeuteten, dass sie in Konzentrationslager
deportiert wurden. Das wäre abwegig. Töricht
wäre auch, das bei derartigen Akten der Brutalität
auf der Massenebene wirksame unbewusste Einverständnis
zu ignorieren. Es gibt kollektive Strömungen und
Ausbrüche, aber auch "natürliche"
Katastrophen wie Erdbeben und Fluten, die die individuellen
Entscheidungsmöglichkeiten, die Komplexe und den
Willen überlagern. Vielleicht existieren auch noch
tiefere spirituelle Faktoren, wozu ich aber nicht Stellung
nehmen kann.
Viele Anhänger der Astrologie glauben
an Karma. Es ist nicht so, dass ich ungläubig wäre.
Ich habe aber das Gefühl, dass es komplizierter
ist als die Ansicht, dass man im letzten Leben nett
oder nervig war und deshalb in diesem Leben belohnt
oder bestraft wird. Moral ist relativ und ungemein subjektiv.
Ich bezweifle den Nutzen solch vereinfachender Herangehensweisen
an den spirituellen Bereich. Es könnte allerdings
ohne weiteres etwas geben, das sich durch die einzelnen
Inkarnationen hindurchzieht und über sie hinausreicht
- wobei aus den Entscheidungen jeder Lebenszeit ein
"Stoff" resultieren könnte, der wie ein
Magnet auf die Art von Erfahrungen wirkt, die wir anziehen.
Dies könnte ein Faktor sein, der über die
bewussten Aktivitäten des Lebens hinausgeht. Sie
werden sich erinnern, dass wir im ersten Teil des Buches
über diesen Gegenstand sprachen.
Es könnte Faktoren in unserem familiären
Erbe geben, über die wir keine Kontrolle haben.
Wie
unfair das auch zu sein scheint, wir haben das Erbe
übernommen und sehen uns mit den familiären
Konflikten und Komplexen konfrontiert, die sich über
viele Generationen hinweg gebildet haben und die häufig
wie eine Art von Schicksal wirken. Wenn solche Konflikte
über lange Zeit ungelöst waren, sind wir möglicherweise
nicht flexibel genug, bestimmte Ereignisse herbeizuführen
oder zu vermeiden. Wer wenig psychologisches Erbmaterial
mit sich herumträgt, hat zweifellos mehr Entscheidungsfreiheit.
Neben dem individuellen Bewusstsein gibt
es noch viele andere Faktoren, die darüber bestimmen,
wie Transite und Progressionen zum Ausdruck kommen.
Nichtsdestotrotz: Vieles von dem, was wir für vorhersagbar
halten, könnte nicht vorherzusagen sein - wenn
das individuelle Bewusstsein über die Ebenen, auf
denen wir Realität erfahren, hinausgeht. Dann haben
wir womöglich die Freiheit, künftige Geschehnisse
zu ändern oder zu transformieren oder kreativer
mit all dem umzugehen, was gemäß den Auswirkungen
der unbewussten Komplexe unsere eigene Schöpfung
ist. Und was die Dinge betrifft, über die wir keine
Kontrolle haben: Diese werden wir schon schnell genug
kennen und akzeptieren lernen. Es geht darum, das Unausweichliche
auf eine spirituellere Weise hinzunehmen.
Es ist eines meiner Ziele zu zeigen,
dass wir vielleicht mehr Freiheit haben als wir denken,
und zwar auf Ebenen, denen wir uns anfangs möglicherweise
nicht bewusst sind. Wenn wir lernen, die Bewegung der
Planeten mit mehr Einsicht zu akzeptieren und weniger
im Sinne einer einfachen Gleichung wie "Uranus
läuft über …, und damit wird … passieren",
verstehen wir vielleicht die Botschaft Pico della Mirandolas,
der die menschlichen Wesen als Gottes Mitschöpfer
bezeichnete.
An den einfachen Regeln zu kleben tut
uns als Astrologen nicht gut. Dies kann im Gegenteil
destruktiv sein, weil es so etwas wie sich selbst erfüllende
Prophezeiungen gibt. Weil unsere Wahrnehmungen unweigerlich
von unseren individuellen Komplexen gestört sind,
neigen wir dazu, Transite und Progressionen nicht gemäß
dem, was sie bedeuten können, zu interpretieren,
sondern gemäß dem, was sie nach Ansicht unserer
Komplexe uns zufügen werden. Selbst der orthodoxeste
"traditionelle" Astrologe ist nicht wirklich
objektiv, wenn es um Vorhersagen geht. Wir wissen auch
nicht genau, was ein Geschehnis überhaupt ist,
weil so viel davon abhängt, wie und wann die Person
Ereignisse registriert. Unsere Annahmen über die
Zukunft sind genauso stark von unserer Psyche gefärbt
wie unsere Annahmen über die Gegenwart.
Die psychologische Herangehensweise an
Transite und Progressionen ist anspruchsvoller als die
enge Auslegung, weil sie das einbezieht, was durch die
Konfigurationen im individuellen Geburtshoroskop angezeigt
ist. Sie setzt voraus, dass wir lernen, mit den traditionellen
Vorhersagetechniken auf verschiedenen Ebenen zu arbeiten.
Sie bedeutet nicht, dass es nutzlos wäre zu ergründen,
wie sich der Lauf eines Planeten auf der materiellen
Ebene äußern könnte. Es wäre töricht,
diese Dimension des Lebens zu ignorieren, genauso wie
es töricht wäre, die Psyche zu ignorieren.
Wenn wir die progressive Sonne im Quadrat zu Neptun
im 2. Haus haben und auf Neptun gerade der Transitsaturn
steht, sollten wir uns davor hüten, mit jemand
ein Geschäft zu eröffnen, dessen Hintergrund
und finanzielle Vertrauenswürdigkeit wir nicht
einschätzen können. Die konkrete Anwendung
der astrologischen Prinzipien kann von großem
Wert sein. Bei der traditionellen engen Auslegung ohne
psychologisches Verständnis ist meiner Ansicht
nach zu befürchten, dass wir unser eigenes Schicksal
besiegeln: Wir manifestieren unsere Vorhersagen und
erzeugen auf diese Art beträchtliches Leid, was
doch in keiner Weise Not tut.
Die verschiedenen Ebenen des Ausdrucks
Ich möchte jetzt die verschiedenen Ebenen,
auf denen sich Transite und Progressionen manifestieren können,
näher untersuchen. Viele von Ihnen werden hierzu schon auf
anderen Seminaren von mir etwas gehört haben. Ich gehe das
Risiko, Sie zu langweilen, aber deshalb ein, weil es meiner
Ansicht nach wesentlich für das Verständnis der planetarischen
Kontakte ist.
1. Sinnhaftigkeit oder Teleologie
Es gibt drei Hauptebenen, auf denen sich Transite und
Progressionen abspielen. Manche von Ihnen meinen vielleicht,
noch mehr. Ich finde aber, dass diese Einteilung einen
guten Überblick bietet. Die erste Ebene ist für
den spirituell orientierten Astrologen die wichtigste:
die tiefere Bedeutung eines bestimmten Transits oder
eines progressiven Aspektes. Ich beziehe das auf die
Teleologie - die Zielgerichtetheit bezüglich der
Evolution der Persönlichkeit, der Seele oder beidem.
Diejenigen von uns, die religiös oder spirituell
orientiert sind, setzen voraus, dass der Kosmos eine
Art von Zweck beinhaltet und dass in den Erfahrungen,
die wir in unserem Leben machen, ein Sinn liegt. Den
Geschehnissen wohnt dieser Auffassung nach ein verborgener
Plan inne, ein lehrendes Moment, und wenn wir uns gemäß
dem, was uns zustößt, weiterentwickeln, werden
wir dem umfassenderen spirituellen und evolutionären
Plan gerecht.
Man kann darüber diskutieren, ob ein solcher kosmischer
Plan existiert oder nicht. Wenn wir persönlich
uns dieses tieferen Musters auch sicher sein mögen
- was mit anderen Worten heißen würde, dass
Gott (oder auch die Götter) existiert -, beweisen
können wir es doch nicht. Wir können aber
auf ein von Zufällen und isolierten Geschehnissen
geprägtes Universum eine höchst persönliche
Wahrnehmung von Bedeutung projizieren. Viele Menschen
erleben das Leben in der Tat als sinnhaft und bedeutungsvoll;
und diese Überzeugung, ob sie denn nun eine Projektion
ist oder nicht, kann sehr hilfreich wirken. Von ihr
geht eine psychologische und spirituelle Kreativität
aus, auch wenn sie im wissenschaftlichen Sinn nicht
"wahr" ist.
Wenn wir Transite und Progressionen von dieser Warte
aus betrachten, fragen wir uns: Was soll ich von Saturn
lernen, der jetzt auf meiner Sonne steht? Was bedeutet
dieses progressive Venusquadrat zu meinem Radixpluto?
Was kann ich entdecken, wenn Uranus im Transit in Opposition
zu meinem Mond steht? Was ist das positive Potenzial
des progressiven Mars im Sextil zu Chiron? Dieser Ansatz
stellt eine extrem wichtige Dimension eines jeden Transits
und einer jeden Progression dar. Wenngleich ich für
ihn die Bezeichnung spirituell gebraucht habe, ist er
doch auch psychologisch wie die Erforschung der elterlichen
Komplexe, weil wir die Bewegung der Planeten in Begriffen
der psychischen Evolution betrachten. Man könnte
dies als transpersonale oder archetypische Psychologie
bezeichnen, weniger als Psychologie im engen Sinn; aber
um Psychologie geht es allemal. Ohne diese Perspektive
sehen wir die Astrologie und uns selbst mechanistisch.
Manche Astrologen sind nahezu vollständig
auf diese Ebene fixiert und bewerten andere Ebenen als
negativ oder materialistisch.
Sie schauen auf den Transit Plutos über den Radixchiron
oder das progressive Venusquadrat zu Saturn und beschränken
sich hauptsächlich darauf, welche Evolutionsthemen
jetzt im Angebot sind. Nehmen wir einmal an, der Transitsaturn
läuft auf die Opposition zur Sonne im 5. Haus zu.
Wenn wir diesen Transit vom teleologischen Standpunkt
aus beleuchten, können wir über das dann im
Brennpunkt stehende Gefühl sprechen, wer man als
Individuum eigentlich ist. Aus diesem Transit resultiert
vielleicht ein stärkeres Gefühl der eigenen
Identität, ein deutlicheres Gefühl eines Zwecks
und die Erkenntnis der eigenen kreativen Talente. Die
Herausforderungen der materiellen Welt mögen die
eine oder andere Verletzung bringen, in der Konsequenz
aber können sie zu einer tieferen Bindung an eine
persönliche Berufung führen. Jeglicher Vorfall,
wie schwierig er auch sein mag, hat dann die "Bedeutung"
einer gesteigerten Bewusstheit.
Der teleologische Ansatz für sich allein ist häufig
ausreichend, wenn es sich um angenehme Transite und
Progressionen handelt, wie zum Beispiel den Transitjupiter
im Trigon zum Mond oder die progressive Sonne im Sextil
zu Uranus. Wenn wir harmonische Planetenkonstellationen
untersuchen, neigen wir dazu, Positives und einen kosmischen
Sinn in ihnen zu sehen. Diese Interpretationen passen
dann auch dazu, wie wir uns zu dieser Zeit fühlen.
Die Bedeutung und die emotionalen Reaktionen zur Zeit
des Transits oder der Progression stimmen miteinander
überein. Aber auch weniger angenehme planetarische
Kontakte kann man in Begriffen von Potenzial interpretieren.
In Zeiten von Unruhe, Anspannung und Schmerz ist dieser
Ansatz mitunter sehr heilsam.
Wenn ein wahrer planetarischer Alptraum aufzieht, müssen
wir uns die Frage stellen, welches Wachstumspotenzial
sich hinter all der Spannung verbergen könnte.
Es ist sehr wichtig, dass wir das vor Augen haben und
in der Lage sind, es weiterzugeben. Wie tiefgreifend
und positiv die zugrunde liegende Bedeutung auch sein
mag, wir müssen uns im Klaren sein: Der Mensch,
der diese Transite und Progressionen gerade erlebt,
ist vielleicht nicht im Stande, seine evolutionären
Chancen zu erkennen. Für viele Menschen und besonders
solche, die gewohnt sind, die Welt rein materialistisch
oder konkret zu sehen, erschließt sich die tiefere
Bedeutung und das Potenzial eines schwierigen Transits
oder einer problematischen Progression oft erst lange
im Nachhinein. Während der betreffenden Zeit selbst
sind sie sich möglicherweise nur ihres Konfliktes
und Schmerzes bewusst und nicht in der Lage zuzuhören.
2. Das emotionale Moment
Transite und Progressionen haben des Weiteren eine
emotionale Ausdrucksebene. Auch diese ist psychologisch,
allerdings hat sie mehr zu tun mit den individuellen
Reaktionen, sowohl in gefühlsmäßiger
Hinsicht als auch bezüglich der unbewussten Komplexe,
die dann aktiviert sind. Meist spielen dabei Gegenwart
und Vergangenheit gleichermaßen eine Rolle. Unsere
emotionalen Reaktionen zur Zeit eines Transits oder
einer Progression sind sehr vielschichtig, und viel
hängt davon ab, wie gut sich der Mensch selbst
kennt, wie stark sein Ego ist, wie er die damit zusammenhängenden
Gefühle zum Ausdruck bringen kann und was er über
die elterlichen Komplexe weiß.
Die Erfahrungen der Vergangenheit sind unweigerlich
berührt, wenn sich ein wichtiger Transit oder eine
bedeutsame Progression einstellt, umso mehr, wenn es
in der Vergangenheit schon eine ähnliche planetarische
Berührung gegeben hat. Wir müssen in Betracht
ziehen, welche Arten von Erinnerungen und Assoziationen
mit ähnlichen planetarischen Kontakten in der Vergangenheit
verbunden sind. Dabei können die Erfahrungen, wie
positiv und konstruktiv sie im Nachhinein auch zu bewerten
sind, mit einem Prozess einhergehen, der mit Leid und
Schmerz zusammenhängt. All diese Faktoren haben
ihren Ursprung auf der emotionalen Ebene, weshalb die
emotionale Reaktion auf einen Transit etwas ganz anderes
ist als sein teleologisches Moment.
Es mag manchmal den Anschein haben, dass absolut kein
Zusammenhang besteht zwischen der Bedeutung eines Transits
oder einer Progression und der Art und Weise, wie man
sich zu dieser Zeit fühlt und verhält. Das
kann sehr verwirrend für den Astrologen sein -
vom Klienten einmal ganz zu schweigen. Ich habe wundervolle
Transite von Jupiter beobachtet, die in keiner Weise
als wunderbar erlebt wurden. Wir neigen dazu, uns zurückzulehnen
und hoffnungsvoll auf Jupiter zu warten: "Oh, herrlich,
etwas Tolles wird passieren, wenn Jupiter meine Sonne
erreicht!" Von der teleologischen Warte aus passiert
vielleicht tatsächlich etwas Wunderbares; was sich
im wirklichen Leben aber abspielt, ist emotional womöglich
ein wahrer Albtraum.
Für einen sehr erdbetonten Mann mit vielen Planeten
im Stier, einem starken Saturn und dem ausgeprägten
Bedürfnis nach Struktur und Stabilität, der
23 Jahre lang glücklich verheiratet ist, drei Kinder,
zwei Autos, einen sicheren Arbeitsplatz und eine Hypothek
auf dem schönen Haus hat, könnte die progressive
Venus auf dem Radixjupiter im 5. Haus alles andere als
emotional und materiell wunderbar sein. Wir Astrologen
wissen, dass die Öffnung des Herzens, die von einer
solchen Konstellation angezeigt wird, in der Konsequenz
genau das ist, was dieser Mensch braucht. Was aber soll
er seiner Frau sagen? Und kann er sich die Kosten für
die Scheidung überhaupt leisten?
Viel hängt davon ab, wie man
sein Leben lebt und ob man in Kontakt mit all den verschiedenen
Faktoren im Horoskop ist. Es ist unwahrscheinlich, dass
jemand sich wirklich in Kontakt mit allem in sich selbst
befindet, sodass es letztlich auf den Grad der Unbewusstheit
ankommt. Wenn jemand um der Sicherheit oder sozialen
Stellung willen früh geheiratet und das Potenzial
seines Jupiters im 5. Haus erbarmungslos unterdrückt
hat, könnte ein derartiger progressiver Aspekt
viel Leid und Konflikte freisetzen. Diese Person wird
dann möglicherweise dem Ehepartner untreu und muss
sich mit den Konsequenzen auseinander setzen. Manchmal
ist es die Ehefrau, die den rebellischen Jupiter auslebt.
Vielleicht haben Sie auch schon diese Art von Stellvertretertum
im Horoskop eines Klienten oder in Ihrem eigenen gesehen.
Wenn der Uranus im Transit über die Radixvenus
läuft, sitzt man da und wartet auf den Märchenprinzen
- und der Partner macht sich davon. Warum zögern
wir uns einzugestehen, dass die machtvolle unbewusste
Psyche die Art und Weise prägt, wie ein Transit
oder eine Progression sich auswirkt?
Manchmal kommt es unter einem glückverheißenden
Transit zu einer ausgeprägten Depression. Mir ist
das bei den so genannten Wohltätern häufig
aufgefallen. Jupiter läuft über die Radixsonne,
oder die progressive Sonne steht auf der Venus - und
der Astrologe meint, dass eine Zeit von Erfüllung
und Glück gekommen ist. Stattdessen aber fällt
der oder die Betreffende in ein großes schwarzes
Loch. Durch eine glückliche Erfahrung werden womöglich
Konflikte aktiviert, die tiefverwurzelte Schuldgefühle
gegenüber den Eltern anzeigen. Es könnte auch
so sein, dass Jupiter uns das ungelebte Potenzial aufzeigt,
was Gefühle des Scheiterns und des Misserfolgs
hervorruft. Wenn wir festgefahren in einer starren Struktur
sind und alle Brücken für zukünftige
Entwicklungen abgebrochen haben, sehen wir uns vielleicht
mit der Frage konfrontiert: Warum lebe ich eigentlich?
Jupiter kann auch mit einer tiefen Depression einhergehen,
weil vielleicht in einem blendenden Moment von schmerzhafter
Wahrheit die Kluft zwischen unserem Potenzial und unserer
augenblicklichen Situation deutlich wird. Wir schämen
uns möglicherweise, unser Leben verschwendet zu
haben.
So kann sich die emotionale Reaktion auf einen Transit
oder eine Progression gänzlich von seiner eigentlichen
Bedeutung unterscheiden. Wir müssen mit dem Klienten
auch dann kommunizieren können, wenn er sich in
einem Zustand emotionaler Qual befindet, der wenig mit
dem zu tun hat, was unserer Meinung nach teleologisch
der tiefere Sinn des planetarischen Kontaktes ist. Wir
können so besessen davon sein, die Bedeutung eines
Transits oder einer Progression darzulegen, dass uns
entgeht, dass die betreffende Person ganz anders denkt.
Sie könnte vor dem, was gerade geschieht, erschrecken,
auch dann, wenn es auf der teleologischen Ebene zur
Transformation führt. Wir wissen vielleicht, dass
das Endergebnis positiv sein wird, der Klient weiß
das nicht. Und wenn wir nicht eine Verbindung zur aktuellen
emotionalen Situation des Klienten herstellen und keinen
psychologischen Ansatz finden, durch den er mit der
tieferen Bedeutung umzugehen lernt, hören sich
all unsere erleuchteten Interpretationen an wie Geschwafel.
Eine Ebene ohne die andere ist unvollständig.
Es ist außerordentlich wichtig zu verstehen, wie
sich Menschen unter schwierigen Transiten fühlen.
Viele Transite sind sehr schmerzhaft - es ist dumm und
kurzsichtig, das zu ignorieren oder eine Person anzuhalten,
optimistisch zu sein. Wenn uns jemand mit der progressiven
Venus im Quadrat zum Radixchiron gegenübersitzt
und sagt: "Ich bin unglücklich", können
wir schlecht antworten: "Blödsinn, du solltest
dich gut und positiv fühlen, weil dies eine Zeit
der Heilung ist". Wir können natürlich
über Heilung sprechen, wir müssen uns aber
der Gefühle von Isolation, Minderwertigkeit und
ungerechter Behandlung, die man zu dieser Zeit wahrscheinlich
erlebt, bewusst sein. Dann können wir intelligente
Bemerkungen darüber einfließen lassen, warum
er oder sie sich so fühlt. Vielleicht müssen
wir auch über die Vergangenheit reden, speziell
über die Zeiten, als Chiron durch wichtige Transite
oder Progressionen aktiviert war. Es ist generell so,
dass die Emotionen, die tiefe innerliche Veränderungen
begleiten, häufig außerordentlich unangenehm
sind.
Ich werde recht viel Zeit darauf
verwenden, auf diese emotionale Ebene der Transite und
Progressionen einzugehen. In
gewisser Weise ist sie hinsichtlich der Manifestation
die komplexeste, weil sie mit dem Mysterium des individuellen
Bewusstseins zusammenhängt. Die emotionale Realität
ist der Leim, der die Ebene der Bedeutung mit der des
Ausdrucks verbindet, und sie ist der Bereich, in dem
wir uns mehr oder weniger frei entscheiden können.
Wenn es so weit gekommen ist, dass sich ein psychisches
Problem verfestigt hat und nun konkret zum Ausdruck
kommt, können wir allerdings nur noch für
die Zukunft planen. Wir können nicht das, was in
die Realität der Gegenwart eingewebt ist, ungeschehen
machen. Das ist die Ebene, auf der C. G. Jung und James
Hillman von der Seele sprechen. Sie stellt den Vermittler
zwischen Geist und Materie dar.
Wer gerade den Transit von Saturn zur Radixsonne erlebt,
könnte sich sehr deprimiert und unsicher fühlen,
obwohl er doch von der teleologischen Warte aus eine
glänzende Gelegenheit für ein größeres
Bewusstsein seiner persönlichen Identität
hat. Er könnte das Gefühl haben, gescheitert
zu sein und seine bisherigen Errungenschaften wertlos
finden. Themen in Verbindung mit den Eltern könnten
an der Tagesordnung sein, besonders solche, die mit
dem Vater- oder Mutterkomplex zusammenhängen. Die
Herausforderungen dieses Transits werden möglicherweise
nicht als Herausforderungen, sondern als Niederlagen
gesehen. Es kann sein, dass man sich mit grundsätzlichen
Fragen zur persönlichen Basis befassen und viele
Einstellungen und Annahmen überprüfen muss,
bevor sich eine konstruktivere Sicht der Welt ergibt.
Die Beziehung zum Männlichen - sowohl in sich selbst
als auch zu den Männern in der Außenwelt
- könnte vollkommen neu definiert werden müssen.
Vieles unter Saturns Transitopposition zur Sonne findet
man nicht besonders angenehm; und wenn man sich schlecht
fühlt, möchte man, dass der Astrologe sich
dessen bewusst ist und dabei hilft, den Grund zu verstehen.
Spirituell orientierte Astrologen brauchen vielleicht
etwas psychotherapeutische Erfahrung, um auf dieser
Ebene zu arbeiten.
3. Materialisation
Die dritte Ebene von Transiten und Progressionen ist
die der Materialisation. Es ist dies die Sphäre,
von der früher viele, wenn nicht alle astrologischen
Ansätze ausgingen. Bei dieser Ebene handelt es
sich in erster Linie darum, was in der materiellen Welt
unter einem bestimmten Transit oder einer Progression
geschehen wird. Vielleicht scheint dieser Ansatz einfach,
er ist aber außerordentlich komplex. Es gibt viele
Themen, innerer wie äußerer Art, die dabei
hineinspielen, ob und wie sich ein planetarischer Kontakt
konkret materialisiert. Einen wichtigen Faktor dabei
stellen die individuellen Komplexe dar, die dann zur
Materialisation neigen, wenn sie sehr stark besetzt
und vom Egobewusstsein abgespalten sind. Wenn es denn
so etwas wie Karma gibt, könnte es wie das familiäre
Erbe auch eine Rolle spielen, genetisch wie psychisch.
Und wir dürfen nicht den Einfluss der Umgebung
verkennen, besonders der herrschenden sozialen Normen
und Weltanschauungen, weil das Individuum zu einem mehr
oder weniger großen Ausmaß durch das Kollektiv
bestimmt wird.
Jeder Mensch könnte in der Tat sein eigenes Schicksal
haben - etwas, das die Seele oder das Selbst in einer
bestimmten Existenz erreichen möchte. In der griechischen
Philosophie ging man von zwei Arten von schicksalhaften
Mächten aus, den Erinnyen und den Daimones. Erstere
sind in etwa mit dem Erbe der Ahnen gleichzusetzen,
letztere mit dem Ziel und Zweck der Seele. Vielleicht
gibt es selbst so etwas wie ein kollektives Schicksal,
womöglich weisen auch Nationen und Völker
in der menschlichen Evolution ein bestimmtes Schicksal
und Erbe auf. Als Individuen haben wir an Bewegungen
teil, die größer sind als wir selbst, aufgrund
der Tatsache, dass wir Teil einer größeren
Menschheit sind, die ihrerseits auf die planetarischen
Zyklen eingestellt ist. Insofern sind wir in das Auf
und Ab dieser umfassenderen Menschheit eingebettet und
müssen uns mit dem psychologischen Ballast auseinander
setzen, den wir in ethnischer, religiöser, sozialer
und nationaler Hinsicht geerbt haben.
Es sind dies philosophische Fragen, zu denen Sie alle
Ihre persönliche Ansicht und Überzeugung haben.
Ich erwähne sie nur deshalb, weil sie bei der Materialisation
von Transiten und Progressionen eine Rolle spielen.
Von all den Bereichen, die ich berührt habe, ist
der der unbewussten Komplexe der Einzige, auf dem wir
als Individuum deutlich in Erscheinung treten. Unsere
Fähigkeit, diese zu erkennen, aufzunehmen, zu verarbeiten
und zu transformieren, können im Endergebnis das
Kollektiv, von dem wir ein Teil sind, beeinflussen,
vielleicht sogar unser Karma. Hinter der Vorhersage
eines jeden Geschehnisses steht ein Individuum oder
eine Gruppe von Individuen. Im Endeffekt sind wir auf
uns gestellt, wenn wir erkennen wollen, was geschehen
wird - welche Art von Geschehnis uns wahrscheinlich
ereilen wird und aus welchem Grund.
Es gibt einen weiteren wichtigen Punkt bei der Materialisation
von Transiten und Progressionen und der Vorhersage von
Vorfällen. Bei der Erörterung des Augenblicks,
der unserer Meinung nach ein Ereignis bringen wird,
haben wir es mit der bedeutungsschwangeren Frage zu
tun, was ein Geschehnis konstituiert. Ein außerordentlich
mysteriöses Gebiet! Ich will Ihnen ein Beispiel
dafür geben, wie kompliziert es sein kann.
Kürzlich hatte ich eine Sitzung mit einer Klientin,
die ich zuvor nur einmal gesehen hatte, was bereits
einige Jahre zurücklag. Dazwischen hatte ich nichts
von ihr gehört. Ich stellte fest, dass der Transitpluto
sich in ihrem Horoskop Chiron auf 5° Schütze
im 4. Haus näherte. Das konnte man mit dem Tod
ihres Vaters in Verbindung bringen. Meine Klientin teilte
mir mit, dass sein Tod ihr nichts bedeutet hatte. Er
war augenscheinlich ein Nicht-Ereignis gewesen. Sie
war der Ansicht, kaum etwas für ihren Vater empfunden
zu haben; sein Tod berührte sie nicht besonders,
auch weil er niemals für sie da gewesen war und
sie nichts mit ihm hatte anfangen können. So schilderte
sie es. Wir hatten die Beziehung zu ihrem Vater während
unserer ersten Sitzung angesprochen, und ihre Wahrnehmung
hatte sich bei dem neuen Treffen nicht geändert.
Ich neige nicht zu der Auffassung, die Stellung von
Chiron als einen Bereich zu sehen, in dem der Mensch
nichts empfindet. Meine Klientin aber beharrte darauf,
dass dem so wäre, womit unsere Diskussion über
den Vater endete.
Der Grund ihres zweiten Besuches war, dass sie sich
große Sorgen über ihren erkrankten Schwager
machte. Bei ihm waren kleine bösartige Wucherungen
festgestellt worden. Sie waren zwar in einer Operation
von den Ärzten entfernt worden, es wuchsen aber
neue nach, und meine Klientin fürchtete, dass der
Schwager sterben würde. Was sie nicht verstehen
konnte, war Folgendes: Obwohl sie dem Schwager nicht
besonders nahe stand, erfüllt sie die Idee, dass
er sterben könnte, mit Panik. Die Vorstellung des
Todes bei niemand anderem einschließlich ihres
Ehemanns (sie hatte nach unserem ersten Treffen geheiratet)
rief solche drastischen Gefühle hervor.
Aus irgendeinem Grund war die Rolle, die der Schwager
in ihrem Leben spielte, sehr viel größer
als gedacht. Sie sah ihn nur selten. Ihre Beziehung
war freundschaftlich; der Schwester, die ihn geheiratet
hatte, stand meine Klientin nicht besonders nahe. Sie
hatte auch niemals erotische Fantasien für ihn
gehabt. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, warum
sie so große Angst hatte, dass dieser Mann aus
ihrem Leben verschwinden könnte. Sie nannte ihren
Zustand eine "irrationale Besessenheit", was
tatsächlich zutraf. Wir sollten vielleicht noch
erwähnen, dass neben dem Transit von Pluto über
Chiron auch noch Neptun über ihre Radixsonne hin
und her lief.
Allmählich wurde deutlich, dass das eigentliche
Ereignis, welches ihrer Angst unterlag, der Tod des
Vaters war. Das mag sich eigenartig anhören, weil
sie ihn bereits verloren hatte - auf der innerlichen
Ebene aber war er für sie noch nicht gestorben.
Es hatte keinen Kummer gegeben, keine emotionale Abspaltung
und kein Gefühl des Verlustes, als sein Tod stattfand.
Und doch überzeugte mich Chiron im 4. Haus in Verbindung
mit einem Sonne-Jupiter-Trigon davon, dass höchst
ambivalente Gefühle zum Vater gegeben waren, extrem
positive wie schmerzhafte zugleich, die vollkommen unterdrückt
worden waren. Diese Dame neigte dazu, so gut wie alle
Gefühle zu unterdrücken. Sie war äußerst
intelligent, ließ aber eine kuriose Leere erkennen
- als ob niemand zu Hause wäre.
Der wirkliche Tod schien, vier oder fünf Jahre
nach dem tatsächlichen Ableben des Vaters, mit
der Annäherung von Pluto an den Radixchiron zusammenzufallen.
Der Schwager der Klientin hat für sie die Rolle
des Vaters übernommen. Sein Saturn auf 22°
Krebs steht genau gegenüber ihrer Sonne auf 22°
Steinbock. Dem Augenschein nach fühlte er sich
verantwortlich für sie, wenngleich er sie nur selten
sah. Sie wiederum reagierte auf seine saturnischen Eigenschaften,
wie es eine Tochter tun könnte. Sie hatte das Gefühl,
dass er im Hintergrund für sie da war und sie sich
auf ihn verlassen konnte. Sie fühlte sich sicher
mit ihm und wusste, dass sie immer zu ihm gehen konnte,
wenn sie ein finanzielles oder emotionales Problem hätte.
Sie hat niemals von dieser Möglichkeit Gebrauch
gemacht, aber er wäre eben da gewesen, wenn sie
ihn gebraucht hätte. Sie hatte ihm unbewusst wie
ein Kind Gefühle zugeschrieben, die mit ihrem wahren
Vater zusammenhingen. Mit diesem verband sie eine schmerzhafte
und komplizierte Beziehung, was sie sich nicht eingestanden
hatte.
Wenn wir nun vorhersagen sollten, was mit diesem Plutotransit
über Chiron im 4. Haus einhergehen wird, könnten
wir äußern: "Sie zieht um oder wandert
aus. Vielleicht lässt sie sich auch scheiden."
Mit etwas mehr Mut würden wir womöglich sagen:
"Es handelt sich um den Tod eines Elternteils,
der sehr schmerzhafte und Verwirrung stiftende Gefühle
aufsteigen lassen wird." Der Tod des Vaters passt
ohne Frage zu diesem Zeitraum, umso mehr, weil auch
Neptun im Transit über die Radixsonne läuft.
Wie kann aber der Vater sterben, wenn er bereits tot
ist?
Für meine Klientin findet der Tod des Vaters jetzt
statt. Das ist ihre Realität - auch wenn es nicht
meine oder die von Ihnen ist. Dieser Tod mit den ihn
begleitenden schmerzhaften Gefühlen hängt
nicht zusammen mit einem Vater in Fleisch und Blut,
der in einen Sarg gelegt wird. Zum ersten Mal sieht
sich meine Klientin Angst, Panik und Kummer gegenüber,
die sie ignoriert hatte, als ihr Vater von der Bühne
abgetreten war. Sie hat diese Gefühle auf einen
Mann gerichtet, der nicht wirklich die Person ist, für
die sie diese Gefühle empfand. Ihr Schwager ist
ein Ersatz, ein Anknüpfungspunkt für ihren
unbewussten Vaterkomplex. Ob der Schwager sterben wird,
ist vom Transit nicht angezeigt. In gewisser Weise ist
das auch nicht wichtig. Es ist die Möglichkeit
seines Todes, die eine so machtvolle Reaktion hervorgerufen
hat. Wir können sagen, dass sein möglicher
Tod zusammenfällt mit dem Reifwerden eines Vaterkomplexes,
der nun bereit ist, ins Bewusstsein zu treten.
Diese Art von Verlagerung von Geschehnissen zwischen
innerer und äußerer Ebene hat einen Einfluss
auf unsere Auffassung von Realität. Ein Geschehnis,
das vermeintlich in Verbindung mit einem bestimmten
Transit oder einer Progression zu sehen ist, könnte
etwas anderes sein, als wir denken. Die Zeit, wenn sich
konkrete Vorfälle ereignen, muss nicht der Zeit
entsprechen, in der das Innere sie erlebt. Die emotionale
Reaktion auf und die Anteilnahme an den Vorkommnissen
des Lebens sind das, was die Vorfälle real werden
lässt. Wir erinnern uns dessen, was einen Einfluss
auf uns hat, und der Einfluss muss nicht der Zeit des
äußerlichen Geschehens entsprechen. Die kurze
Fallstudie, die ich ihnen dargelegt habe, ist nicht
ungewöhnlich. Die Zeit, in der sich Ereignisse
manifestieren, entspricht nicht immer dem physischen
Geschehnis. Das ist der Grund, warum sich materielle
Vorkommnisse ergeben können, ohne dass ein relevanter
Transit oder Progressionsaspekt gegeben ist, auch wenn
wir meinen, dass irgendetwas Wichtiges am Horoskop abzulesen
sein muss.
Als weiteres Beispiel wollen wir das Ende einer Beziehung
betrachten. Wann kommt es dazu? Wenn die Partner physisch
ihrer Wege gehen? Ganz offensichtlich ist das häufig
nicht der entscheidende Zeitpunkt, selbst dann nicht,
wenn die Verbindung durch den Tod gelöst wird.
Für viele Menschen besteht die Beziehung über
die physische Trennung hinaus. Auch lange Zeit danach
kann ein Partner noch Wut oder Kummer empfinden und
unfähig sein, den Verlust zu überwinden, selbst
wenn die Scheidung schon viele Jahre zurückliegt.
Ähnlich ist es, wenn ein Kind stirbt und der Vater
oder die Mutter nicht darüber hinwegkommt: Vielleicht
wird dann das Kinderzimmer wie ein Museumsraum im ursprünglichen
Zustand belassen, als ob die Rückkehr des Kindes
jeden Augenblick bevorstehen könnte. Das kann auch
auf Ehepaare zutreffen, die sich scheiden lassen: Das
Bild des ehemaligen Partners behält seinen Ehrenplatz,
und der neue Freund oder die neue Freundin darf sich
nicht in seinen Sessel setzen.
Häufig sind sich Menschen dieser Gefühle
überhaupt nicht bewusst und - manchmal Jahre später
- schockiert über die eigene heftige Reaktion,
wenn der Ex-Mann oder die Ex-Frau erneut heiratet. Alles
bricht dann zusammen, als ob der untreue Partner in
einer verborgenen Kammer der Seele über Jahre hinweg
auf Eis gelegen hätte. Auch wenn die Trennung auf
der konkreten Ebene bereits Jahre zurückliegt:
Bei der neuen Bindung fühlt der verlassene Partner
mit einem Mal Kummer und Schmerz aufsteigen, als ob
man gerade erst auseinander gegangen wäre. Und
in der Tat ist es in diesem Augenblick geschehen. Was
mag wohl passieren, wenn die progressive Venus auf Pluto
kommt, der Saturn im Transit auf die Venus oder Uranus
im Transit gegenüber vom Mond im 7. Haus steht?
Wenn Beziehungen enden, enden sie vielleicht nur für
einen der beiden Partner. Andere Verbindungen wiederum
sind schon längst beendet, bevor es zu einer Trennung
kommt. Und andere Paare bleiben möglicherweise
zusammen, wenngleich das Leben aus der Beziehung schon
seit zwei oder zehn oder gar 30 Jahre geschwunden ist.
Das kann ebenfalls durch wichtige Transite oder Progressionen
angezeigt sein, auch hier gilt, dass es kein physisches
Ereignis geben muss. Transite und Progressionen können
das Ende von etwas beschreiben, es ist aber denkbar,
dass kein Ende wahrzunehmen ist, dass es kein konkretes
Geschehnis gibt. Ein Transit- oder Progressionsaspekt
kann auch ein Ende markieren, das alle anderen schon
längst wahrgenommen haben: "Da ist doch gar
nichts mehr." Anfang und Ende sind höchst
individuell. Jeder Mensch hat seine spezielle Zeit,
um Ereignisse hervorzubringen. Manche Ereignisse bedeuten
einer Person nichts und einer anderen sehr viel. Der
Tod selbst bedeutet jedem etwas ganz anderes. Der eine
zittert davor und leugnet ihn bis zuletzt, der andere
schließt lange vor der Zeit Frieden mit ihm und
betrachtet ihn als rituellen Übergang.
Die Wahrnehmung eines Ereignisses - die zeitliche Auslösung,
die Bedeutung und unsere Interpretation - wird beschrieben
durch die Transite oder Progressionen, die zu der fraglichen
Zeit stattfinden. Insofern sind die realen Geschehnisse,
die von den Konstellationen angezeigt werden, diejenigen,
die sich in der Psyche ereignen. Ein äußerlicher
Vorfall an sich muss dem Menschen noch nichts bedeuten.
Erlebt man gerade einen machtvollen Transit oder eine
starke Progression, kann ein Geschehnis dagegen von
außerordentlicher Wichtigkeit sein und das Leben
vollständig umkrempeln; der gleiche Vorfall zu
einer Zeit ohne markante Aspektbegleitung wird vollkommen
anders und in keiner Weise als wichtig empfunden. Der
Vorfall an sich ist nicht so entscheidend wie die objektive
Einheit der beiden Ebenen. Das, was wir im Inneren erleben,
verleiht dem Vorfall seine Bedeutung, gemäß
dem begleitenden Transit- oder Progressionsaspekt.
Ich weiß, dass dies ein schwieriges
Thema ist, weil wir Realität für gewöhnlich
so deuten, dass die Geschehnisse "da draußen"
objektiv sind. Die
physische Manifestation mag objektiv sein (wenngleich
auch das zu hinterfragen wäre); die Art und Weise,
wie wir wahrnehmen, ist es nicht. Es ist sehr beunruhigend
zu erforschen, wie unsere Wahrnehmungen das färben,
was "da draußen" ist. Und unsere Wahrnehmungen
sind das, was das Horoskop beschreibt, einschließlich
den Transiten und Progressionen über Radixplaneten.
Wenn Saturn im Transit auf unserem Mond steht, neigen
wir zu Wahrnehmungen und Reaktionen, die aller Wahrscheinlichkeit
nach realistischer - und negativer - sind als beim Transit
von Neptun. Wenn Uranus auf unserem Merkur steht, sehen
wir eine andere Wahrheit als wenn Chiron im Transit
über Merkur läuft. Befindet sich der Transitjupiter
auf der Venus, nehmen wir Menschen anders wahr als mit
dem Transitpluto auf der Venus. Haben sich die Menschen
verändert oder wir? Und falls es die Leute sind:
Haben unsere unterschiedlichen Wahrnehmungen einen Einfluss
darauf, welche Menschen wir anziehen und welche Einstellung
sie uns vermitteln?
Kommt es im Transit unter dem Uranustrigon zur Venus
zu einer Trennung, löst das vollkommen andere Gefühle
aus als unter der Transitopposition von Pluto zur Venus.
In den Augen anderer mögen sich beide Ereignisse
gleich ausnehmen. Peter Meier verlässt seine Frau
und brennt mit der 18-jährigen Sekretärin
durch. Hat nun Peters Frau zur gleichen Zeit Uranus
im Trigon zur Venus, wird sie sich wahrscheinlich erlöst
und befreit fühlen. Bei Pluto in Opposition zur
Venus ist das Bitterste an der ganzen Sache das Gefühl,
betrogen worden zu sein. Wenn sich die progressive Venus
in Opposition zu Neptun befindet, dürfte man sich
als Opfer fühlen. Bei einem Transitquadrat von
Saturn zur Venus könnte das materielle Überleben
im Vordergrund stehen sowie ein nagendes Minderwertigkeitsgefühl
angesichts einer beschämenden Zurückweisung.
Wir dürfen niemals die Wichtigkeit der subjektiven
Dimension bei den Geschehnissen unterschätzen.
Welche Gefühle ein Vorfall auslöst, wie er
aufgefasst und wahrgenommen und wann er wirklich als
Realität registriert wird, hängt ganz von
der herrschenden astrologischen "Wetterlage"
und vom Geburtshoroskop ab, weil das betreffende Individuum
das Geschehnis auf individuelle Weise erlebt. Das macht
die Frage, wie ein Geschehnis zu definieren ist, noch
komplizierter. Die Spannbreite hierfür ist enorm,
gleiches gilt für die zeitliche Auslösung.
Und jeglicher planetarische Kontakt kann ein physisches
Geschehen anzeigen, muss es aber nicht.
Es wird noch verwickelter, wenn wir uns mit den äußeren
Planeten beschäftigen. Diese bleiben mit der direkt-
und rückläufigen Bewegung und den stationären
Phasen bis zu zwei oder drei Jahre an Stellen, von wo
aus sie das Horoskop aspektieren, bei Pluto kann es
noch länger dauern. Der Transit eines äußeren
Planeten kann mit einer ganzen Reihe vermeintlich unzusammenhängender
Ereignisse einhergehen, die allesamt durch die getönte
Linse seiner Prägung wahrgenommen werden. Deshalb
scheinen die Vorfälle dieser Zeit dann eine ähnliche
Bedeutung aufzuweisen und mit ähnlichen Gefühlen
behaftet zu sein.
Wenn die gleichen Ereignisse zu einer anderen Zeit
geschehen, würden sie auf eine andere Weise erlebt
werden. Sie hätten den Anschein des Zufälligen.
Wir würden dann nicht sagen: "Zwischen dem
Tod meines Vater vor zwei Jahren, dem Kampf, den ich
letztes Jahr mit meinem Arbeitgeber führen musste,
und der Liebesaffäre, die diesen Monat begann,
besteht eine Verbindung - das hängt alles mit dem
gleichen Thema zusammen." Es ist der Transit oder
die Progression, die dieses Gefühl des Zusammenhangs
ausmacht, nicht die Geschehnisse an sich. Wir neigen
dazu, uns an Phasen des Lebens zu erinnern, nicht an
einzelne Vorfälle in ihrer Abfolge. Dieses Bewusstsein
für Perioden - eine Zeitspanne, die von bestimmten
Arten von Ereignissen geprägt war - ist zutiefst
subjektiv und mit den sie begleitenden Transiten und
Progressionen verbunden.
Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir einen
Vorfall zu analysieren versuchen. Je genauer wir ihn
betrachten, desto subjektiver wird er. Haben Sie schon
einmal einen Sterbefall astrologisch untersucht? Ich
meine damit nicht nur die Aspekte im Horoskop des oder
der Verstorbenen, sondern aller, die dieser Person nahe
standen. Wir mögen der Ansicht sein, dass der Tod
ein besonders schreckliches Ereignis darstellt, das
sich zu einem bestimmten Augenblick abspielt, für
den wir ein Horoskop berechnen können. Kein Astrologe
aber hat bislang eine typische Todeskonstellation herausfinden
können, in jedem Horoskop sieht sie anders aus.
Und die Aspekte, die sich dabei womöglich über
Jahre hinweg aufbauen, sind genauso wichtig wie die,
die zu dieser Zeit exakt sind.
Um einen Sinn in der Materialisation von Transiten
und Progressionen zu erkennen, müssen wir uns der
drei verschiedenen Ausdrucksebenen bewusst sein, einschließlich
der emotionalen und der teleologischen. Die beiden letzteren
haben einen direkten Einfluss auf die aktuellen Geschehnisse.
Es gilt aber, sich nicht nur die drei Ebenen als solche
vor Augen zu halten, sondern auch ihre Komplexität.
Nur wenn wir die Ereignisse im größeren Rahmen
sehen, werden wir unserer Verantwortung gerecht, wenn
wir äußern: "Es besteht die Wahrscheinlichkeit,
dass dieses oder jenes geschehen wird." Ohne ein
solches Bild werfen wir mit verbundenen Augen Pfeile.
Vielleicht treffen wir ins Schwarze, vielleicht verletzen
wir aber auch jemanden schwer.
Entnommen aus:
Liz Greene:
"Prognose und Psychologische Dynamik"
Chiron Verlag Tübingen, 1999.
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www.astronova.de
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