Vom Loslassen und
Lebendigwerden
Kolumne von Barbara Hutzl-Ronge
Ich blättere in einer Wirtschaftszeitung und mein Blick bleibt
fasziniert an einem Inserat hängen: zwei strahlende Menschen, er
hält den Arm um sie und beide lachen, als wollten sie ihr Glück
in alle Welt hinausschreien. Darunter steht: "Das sind Bernd und
Inge Monbauer. Sie lieben sich, Schokoeis und Chilichips. Im November
feiern sie ihr 3-Jähriges. In Einrichtungen der Diakonie finden
Menschen wie Bernd und Inge die zum Leben notwendige Unterstützung.
Wir schaffen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen
einen Ort zum Lernen, zum Arbeiten und zum Wohnen. Für ein würdiges
und erfülltes Leben. In grösstmöglicher Normalität."
Es geht nicht anders, ich muss schlucken, bin berührt, freue mich
und denke gleichzeitig: Das ist die Jupiter-Neptun-Opposition.
Nehmen wir Jupiter. Auf persönlicher Ebene zeigt er auf, wie wir
Sinn suchen und wovon wir uns überzeugen lassen. Auf gesellschaftlicher
Ebene bringen wir ihn unter anderem mit Institutionen, die Überzeugungen
verkörpern, in Verbindung. Und weil es mit Überzeugungen halt so
bestellt ist, dass uns nur manche bewusst sind, wir die meisten
jedoch völlig unbedacht übernehmen, verkörpert Jupiter auch festgefahrene
Meinungen à la "Das muss so sein!" oder "Das gehört sich doch nicht!" Wer
an Jupiters Stelle tiefer gräbt, stösst oft auf den Moralapostel,
der sich dann am liebsten noch über anerkannte Institutionen Bestätigung
holt.
Die Katholische Kirche z.B. ist eine solche Institution, die nicht
nur Menschen bei deren Sinnsuche - selbstverständlich hin zu ihrem
christlich-katholischen Gott - begleitet, sondern in der über die
zwei Jahrtausende sich auch ganz starre moralische Überzeugungen
breit gemacht haben. Eine davon war: Sexualität ist sündhaft. Wenn
schon, dann in der Ehe, und dort auch so wenig wie möglich. Menschen
mit Behinderungen wurde es gänzlich verwehrt, Sexualität zu erleben.
Ein Recht auf natürlich freudvoll gelebte Sexualität hat es in
der Katholischen Kirche nie gegeben. Wer sich zum Hüter über die
Moral seiner Herde aufschwingt, kommt seinen "moralischen Verpflichtungen" natürlich
besonders gern und auch restriktiv bei jenen Schäfchen nach, denen
er sich aus Nächstenliebe zuwendet, weil sie Hilfe und Unterstützung
benötigen.
Und nun das. Die Diakonie unterstützt behinderte Menschen bei
einem erfüllten Leben. Dass heisst für mich, dass Partnerschaften
gelebt werden können, in der zwei nicht nur liebevoll auf einander
bezogen sind, sondern selbstverständlich auch gemeinsam Sexualität
erleben. "Da ist doch etwas weitergegangen", denke ich mir und
lehne mich erfreut zurück.
Ich erinnere mich noch gut, als Pluto im Skorpion in den 80er
Jahren uns mit gelebter Sexualität konfrontierte, wo sie gesellschaftlich
nicht anerkannt war, z.B. weil es Menschen gleichen Geschlechts
waren, die sich liebten. Auch Zeitungsartikel darüber, wie in Heimen
Tätige ihren Schutzbefohlenen Sexualität verwehrten, ja viel schlimmer
noch, sie zur Befriedigung ihrer eigenen Sexualität missbrauchten,
fallen mir ein. Diese Themen waren typisch für Pluto im Skorpion,
ging es doch darum, dass Tabuthemen bezüglich Sexualität ans Tageslicht
kamen. Nicht dass es den Missbrauch vorher nicht gegeben hätte,
aber nun kam er zum Vorschein, Skandale häuften sich und man empörte
sich über das soeben Entdeckte.
Als Pluto dann in den Schützen weiterlief, ging es darum zu schauen,
wie eigentlich unser Ideal im Umgang mit Sexualität wäre. Wir mussten
eine Diskrepanz feststellen: Die Wirklichkeit war so weit von den - ach,
so hehren! - Idealen entfernt. Nun rückte die Kirche und ihr Umgang
mit Sexualität verstärkt ins Blickfeld des öffentlichen Bewusstseins.
Wie sie sich zum Zölibat der Priester, zu ihrem Wunsch nach Beziehung
und gelebter Sexualität stellt, wie sie Verhütung verbietet und
was dieses Verbot im Bezug auf Aids und die Unterernährung in den
Ländern der dritten Welt bedeutet, das waren und sind Themen, die
Zeitungen füllen und Menschen bewegen.
Pluto schleicht noch immer durch den Schützen und derweil ist
Jupiter wieder einmal in den Löwen gewandert. "Ich will Spass!",
schreit Jupiter im Löwen, aber er weckt auch ein tieferes Bedürfnis:
in der Art, wie wir unser Selbst zum Ausdruck bringen, möchten
wir kreativ und sinnvoll wachsen.
Bringen wir jetzt noch Neptun ins Spiel, der Jupiter gegenüber
steht. Grenzenlos ist sein Wesen, er nährt unsere Sehnsüchte, lässt
uns sehnend nach dem suchen, was grösser ist als wir selbst. Und
noch etwas kann er: Bestehendes auflösen. Da Neptun Jupiter gegenüber
steht, sind es Überzeugungen, die aufgelöst werden können. "Da
ist wohl die Kirche daran, ihre Überzeugungen bezüglich Sexualität
aufzulösen und zu verändern", denke ich und freue mich, dass nun
auch behinderte Menschen innerhalb christlicher Sozialwerke ihre
Sexualität als Ausdruck ihrer Lebensfreude leben dürfen.
Tage später erhalte ich Besuch von einem Freund; auch er ein Astrologe
wie ich. Begeistert zeige ich ihm das Inserat und meine Jupiter-Neptun-Erkenntnisse
sprudeln nur so aus mir heraus. Doch der Freund ist ganz anderer
Meinung. "Ich kenne die christliche Szene", ruft er aus. "Mein
Grossvater mütterlicherseits war evangelischer Missionar, meine
Grossmutter väterlicherseits bei den Urchristen und mein Bruder
steckt bei einem christlichen Verein. Ich kenne diese Szene und
ihre Fähigkeit sich oberflächlich dem Zeitgeist anzupassen. Aber
darunter bewegt sich nichts! Das ist doch bloss eine PR-Aktion
und vor dem Hintergrund sämtlicher Kirchenskandale sogar eine besonders
geschickte!"
"Ups, da hab ich wohl in ein Wespennest gestochen", denke ich
mir und bevor ich noch weiterdenken kann schiebt er noch etwas
hinterdrein. "Neptun bewirkt Illusionen und dass es im Zusammenhang
mit Jupiter auch um Illusionen bezüglich der Kirche gehen kann,
das brauche ich Dir ja nicht erklären. Meinst Du nicht, Du bist
da einem Luftschloss aufgesessen, nur weil Du Dir wünschst, es
möge endlich so sein?"
Ich schlucke - schon wieder! -, weil ich genau weiss, dass er
ziemlich sicher Recht hat. Plötzlich spüre ich meine eigene Sehnsucht,
es mögen doch endlich auch Institutionen wie die christlichen Kirchen
ihre Überzeugungen dem anpassen, was für mich die Lebendigkeit
des Lebens bedeutet. Wie schön wäre es, könnten sie alte, überholte Überzeugungen
endlich loslassen! Da habe ich mir doch wirklich von Neptun etwas
vorgaukeln lassen und aus einem Inserat viel mehr herausgelesen,
als darin steht. Es mag ja so sein, dass in einem von vielen christlichen
Sozialwerken sich der Umgang mit Menschen etwas geändert hat, aber
dies gleich auf die christlichen Kirchen als Ganzes zu beziehen,
das ist sicher blosses Wunschdenken.
Wir diskutieren noch bis spät in die Nacht, der Freund und ich,
was sich auf gesellschaftlicher Ebene unter der Jupiter-Neptun-Opposition
getan hat. Wo gelang es Gruppierungen von Menschen, ihre alten Überzeugungen
als überholt zu erkennen und diese loszulassen? Ich stimme ihm
zu, dass es ziemlich wenig ist, was wir da auf religiöser, politischer
oder wirtschaftlicher Ebene als "positive Ernte" verbuchen können.
"Aber wenn sich auf gesellschaftlicher Ebene so wenig tut, dann
bleibt uns ja immer noch eine Möglichkeit offen", erwidere ich. "Jeder
Einzelne kann bei sich selbst schauen, welche Überzeugungen er
hat, sie überprüfen, ob sie sich nicht vielleicht schon längst
als überholt erwiesen haben und sie dann bewusst loslassen." "Und
weil die Gesellschaft ja nichts anderes ist, als die Summer lauter
Individuen, verändert sie sich so ja doch", füge ich hinzu, "nämlich
genau so weit, wie das jedem einzelnen von uns bei sich selbst
gelingt."
Da stimmt mir der Freund zu und wir einigen uns darauf, dass wir
beide uns den optimistischen Wunsch, die Gesellschaft möge sich
auf diese Art verändern, dass wir uns den bewahren wollen.
Selbstverständlich fiel uns dann auch noch etliches ein, was uns
im Lauf des vergangenen Jahres, während diese Konstellation aktiv
war, beschäftigt hat. Und sowohl er als auch ich entdeckten Überzeugungen,
die sich jetzt, da diese Konstellation vorüber ist, als Illusion
erwiesen haben. "Zeit, sie endgültig loszulassen!" lachten wir
und prosten uns zu. "Schön, dass uns das Leben lehrt, im Geist
lebendig zu bleiben!"
Jupiter-Neptun-Opposition
Exakt war sie am 11. September 2002,
sowie am 16. Februar und am 3. Juni 2003.
© Barbara
Hutzl-Ronge / Astrodienst AG 04/2003 |