Wo sich Polaritäten auflösen
Kolumne von Barbara Hutzl-Ronge
"Fährst Du mit mir am katholischen Fasnachtsmontag nach Einsiedeln",
fragte mich meine Freundin Lis Anfang Februar. "Was gibt’s denn dort
Spannendes?" "Dunkle Gestalten vor der Schwarzen Madonna", erwiderte
sie und bevor ich ja sagen konnte, verrieten ihr schon meine leuchtenden
Augen, dass sie eine Reisegefährtin gefunden hatte.
In der Nacht vor dem Fastnachtsmontag hatte dichter Schneefall dafür
gesorgt, dass sich der Platz vor der Wallfahrtskirche in Einsiedeln
in jungfräulichem Weiss präsentierte. Am Morgen fielen aus dem wolkenverhangenen
Himmel noch immer dicke Schneeflocken, sanken malerisch vor den grauen
Klostermauern zu Boden und setzten der Brunnenmadonna ein Häubchen
auf. Langsam und stetig strömten immer mehr Menschen auf den Platz
und bildeten eine Gasse.
Plötzlich waren sie zu hören, die Trychler, und der langsame, eindringliche
Rhythmus ihrer schweren Kuhglocken tat seine Wirkung. Bevor ich sie überhaupt
sehen konnte, bekam ich schon Hühnerhaut. Dann zogen die fastnächtlichen
Gestalten um die Ecke, die Dorfstrasse herauf. Vorneweg tänzelten
im Takt der Glocken an die hundert Teufel mit mächtigen Hörnern.
Aus jedem ihrer rabenschwarzen Gesichter hing eine lange rote Zunge
und ihre weissumrandeten Augen blickten grimmig. Bekleidet waren
die Teufel wie es bei solch dunklen Gestalten häufig zu sehen ist:
als Schmiede mit dickledernen Schürzen, ausgerüstet mit spitzen Gabeln,
an denen sogar Kohlestücke aus den höllischen Feuern steckten. Hinter
den Teufeln folgten die Trychler, lauter Männer, die sich als Hexen
oder wilde Weiber kostümiert hatten. Sie hatten sich schwere Kuhglocken
auf den Rücken gegürtet und brachten diese mit einem Hüfte wiegenden
Gang zum Dröhnen. Dann erst folgten jene Gruppen und Einzelfiguren,
die sich wie vielerorts üblich individuell verkleidet hatten und
die Bewohner des Dorfes mit witzigen Aktionen auf die Schippe nahmen.
Volkstümliche Bräuche haben mich schon immer fasziniert. Besonders
beeindruckend finde ich, wenn " wie hier bei der Einsiedler Fastnacht " Brauchtum
und Religion einander sehr nahe kommen. Früher drangen die Teufel
sogar in die Kirche ein, sie tanzten und johlten vor der Schwarzen
Madonna. Das Material, aus dem die Masken der Teufel und Hexen hergestellt
wurden, stammte damals auch noch aus dem Kloster. Für die Stuckaturen
benötigten die Mönche immer wieder Gold, das hauchdünn auf feinem
Seidenpapier geliefert wurde. Dieses Seidenpapier erhielten die Einsiedler
und formten daraus in den Nächten vor der Fastnacht die Masken der
Teufel und Hexen.
Die traditionelle Fastnachtszeit findet meistens statt, während
die Sonne das Sternzeichen der Fische durchläuft und die Hauptaufgabe
dieses Sternzeichens besteht darin, Vorhandenes aufzulösen, damit
Neues entstehen kann. Wenn herkömmliche Ordnungen auf den Kopf gestellt
werden, dann kann es dabei durchaus chaotisch zugehen und nicht selten
passiert dies mit fast religiöser Hingabe.
Bevor also das Leben im Frühling " unter dem Sternzeichen Widder " neu
beginnen kann, wird es während der Fischezeit kräftig durcheinander
gewirbelt und auf den Prüfstand gestellt. Die dunklen, zerstörerischen
Mächte des Winters " an der Einsiedler Fastnacht verkörpert durch
die schwarzen Teufel und Hexen " zeigen nochmals ihre Macht und messen
sich mit Maria, der Mutter des neuen Lebens. Dahinter verbirgt sich
eine Weisheit, die sich am Rhythmus der Jahreszeiten orientiert.
Aus Erfahrung wissen die Menschen, dass das neue Leben im Frühling
sich entfalten wird. Aber sie verehren nicht nur Maria als dessen
Trägerin (und dann zu Ostern ihren wiederauferstandenen Sohn), sondern
sie ehren auch die dunklen Mächte, die es bedrohen. Die Kälte des
Winters, seine dunklen Tage sind zwar gefährlich, bringen gleichzeitig
jedoch auch die für die Natur unbedingt notwendige Ruhephase, auf
die die Pflanzen unserer Breitengrade eingestellt sind.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet existieren die Polaritäten
Gut und Böse nicht. Was es gibt, ist der sich immer wieder erneuernde
Zyklus des Lebens, der sich auch wunderschön in den Symbolen des
Tierkreises spiegelt, die die Sonne während eines Jahres durchläuft.
Ganz natürlich entsteht neues Leben, wächst und reift, wird Frucht
und geerntet, darf aber auch zu Boden fallen, verfaulen und so den
innewohnenden Samen der Erde übergeben. Und nach einer Zeit, in der
alles Lebendige in kalter Erstarrung geruht hat, haben sich die inneren
Kräfte des Lebens wieder gesammelt, um mit wiedergewonnener Stärke
den Neubeginn zu wagen.
Geboren werden, leben, sterben und tot sein sind nichts anderes
als die unabdingbaren Elemente des Lebens selbst. Dort, wo sie einander
berühren, können sie sich sogar ähnlich sein: Schwarz sind die Teufel,
schwarz ist die Madonna. Und ehrfürchtig begegnen die Einsiedler
beidem.
© Barbara
Hutzl-Ronge / Astrodienst AG 08/2003 |