Wintersonnenwende
Kolumne von Barbara Hutzl-Ronge
Wenn die Natur sich in ihre Ruhephase begibt, wenn fürs Abzählen
der Nebeltage zwei Hände nicht mehr ausreichen und es jeden Abend
immer früher dunkel wird, dann harre ich mit sehnsüchtigem Herzen
auf den Moment, an dem die Tage wieder länger werden.
Während des ganzen Schützemonats sind Kerzen für mich überlebensnotwendig:
Gleich nach dem Aufstehen zünde ich etliche im Wohnzimmer an. Mit
einem Teelicht bringe ich eine weisse Schneeblüte in der Küche zum
Leuchten und im Flur schimmert es warm aus den Tiefen eines Steins.
Der Stein hilft mir am meisten über die dunkle Zeit hinweg, denn
eine finnische Freundin hat ihn mir mit den Worten geschenkt: "So überleben
wir im Norden den Winter."
Mit meinem Lichthunger bin ich zu dieser Jahreszeit nicht allein.
All die Adventkränze, Weihnachtsgestecke und Lichterketten würden
sich wohl kaum so gut verkaufen, hätten nicht viele Menschen dasselbe
Bedürfnis wie ich. Fast alle freuen sich über die weihnachtlich erleuchteten
Strassen und ergreifen auch sonst jede mögliche Gelegenheit, um Licht
ins Dunkel zu bringen.
Nun hat sie sich endlich ereignet, die von mir so lang ersehnte
Wintersonnenwende! Am Morgen des 22. Dezember haben wir die längste
Nacht überstanden und die Sonne trat ins Sternzeichen Steinbock ein.
Nicht, dass Sie meinen, ich würde nun sämtliche Kerzen ausblasen
und frohgemut beginnen, auf den Frühling zu warten. Dunkel ist es
ja noch immer und zurzeit werden die Tage auch nur nahezu unmerklich
länger. Trotzdem liebe ich diesen fast unsichtbaren Umschwung hin
zur helleren Jahreshälfte und finde den Wechsel der Sonne vom Schützen
in den Steinbock markant. Das geht anderen offenbar ebenso.
Vor zwei Wochen gestand mir ein Freund, dass er mit seiner nächsten
Komposition furchtbar spät dran sei. Er schätze sich ja glücklich,
diesen Auftrag erhalten zu haben, denn es komme wahrlich selten genug
vor, dass Orchesterwerke in Auftrag gegeben werden, aber er könne
sich trotzdem nicht durchringen endlich anzufangen. "Gell, im Dezember
soll man keine neuen Sachen anfangen?" fragte er - astrologische
Unterstützung erwartend - hoffnungsvoll in meine Richtung. Nein,
so generell lasse sich das wohl kaum beantworten, erwiderte ich.
Ja, ganz so genau nähme er es mit dieser Bauernregel eh nicht, denn
zwischen Weihnachten und Silvester - also doch noch im alten Jahr! -,
da gelinge es ihm jedesmal besonders gut, an einer Komposition dranzubleiben. "Spätestens
bis Dreikönig bin ich mit der Hauptarbeit fertig, danach muss ich
nur mehr die Details ausfeilen. Ich habe jetzt schon ganz viele Ideen
im Kopf, aber ich weiss genau, dass es mir erst dann gelingen wird,
sie niederzuschreiben. Jetzt muss ich bloss aushalten, dass ich es
vorher noch nicht kann. Ist das nicht seltsam?"
Da erzählte ich ihm von der Visionskraft der Schützesonne im Dezember,
unter der man sich das, was werden soll, besonders gut erträumen
kann, unter der es aber noch nicht an der Zeit ist, die Vision auf
die Erde zu bringen. Erst die Steinbocksonne schenkt uns die Klarheit,
zu sehen, wie etwas verwirklicht werden kann und auch die Ausdauer,
dies umzusetzen. "Ab der Wintersonnenwende stimmt der äussere Rahmen
einfach besser", sagte ich zum Schluss ganz bestimmt.
Ja der äussere Rahmen sei dann einfach genial, begann er zu schwärmen.
Seine Frau spiele ab Weihnachten abends immer in einem Orchester
eines Engadiner Hotels. Tagsüber probe sie in einer Schule, in der
es auch einen Extraraum mit Klavier gibt, in dem er dann arbeite. "Weißt
Du, da gibt es ganz feste Probezeiten: drei Stunden am Vormittag
und drei am Nachmittag. Ich hör’ sie dann im Hintergrund üben, aber
das stört mich gar nicht, ganz im Gegenteil, ich fühl’ mich nicht
allein und bin trotzdem für mich. Du glaubst nicht, wie konzentriert
ich in der knappen Zeit arbeiten kann."
"Das liegt daran, dass unter der Steinbocksonne das Wesentliche
sichtbar wird, dass wir dann unter all der Fülle, die wir in der
Schützezeit angesammelt haben, das Richtige auswählen und es gestalten
können", fügte ich erklärend hinzu und erzählte ihm, dass auch ich
immer im Dezember in grossen Ideen schwelge, die ich mir in ganz
leuchtenden Farben ausmale, dass ich aber erst ab dem ersten Weihnachtstag
bestimme, was ich im kommenden Jahr verwirklichen werde. "Dann entscheide
ich, was ich konkret tun werde. Jedesmal am 6. Januar, dem Dreikönigstag,
habe ich die innere Gewissheit, dass ich nun mein Jahr ‘zu Faden
geschlagen habe’, dass ich seine innere Struktur festgelegt habe,
die ich im Lauf des Jahres auffüllen und bereichern werde. Wahrscheinlich
gar nicht so unähnlich zu Deiner Komposition, in der Du zuerst den
Hauptstrang gestalten musst, bevor Du beginnen kannst, die Detailpartien
auszuarbeiten."
Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass es vor der Wintersonnenwende
absolut in Ordnung ist, sich das Neue "nur" mit viel Begeisterung
vorzustellen. Und bis dahin haben wir einander lachend - für wirklich
wesentliche Projekte - die Erlaubnis zum verträumten Faulsein ausgestellt.
Ich weiss, der Steinbockmonat wird nicht nur bei mir wie im Flug
mit konzentrierter Arbeit herumgehen. Plötzlich werden die Tage Anfang
Februar schon um eine Stunde länger geworden sein. Dann werde ich
die Kerzengefässe in die Schublade räumen, bis es ein Jahr später
wieder Zeit wird für innere und äussere Erleuchtung. Im Sommer davor
werde ich allerdings auch noch Musik hören dürfen. - Erleuchtung,
die zu Tönen wird, das ist für mich das Schönste.
© Barbara
Hutzl-Ronge / Astrodienst AG 08/2003 |