Wie in Paris
Kolumne von Barbara Hutzl-Ronge
Alle Wege führen nach Paris, zumindest in Frankreich. So hat es
sich nicht vermeiden lassen, dass ich auf der Heimreise aus der Bretagne
dort vorbei gekommen bin. In Paris nur für einen Tankstopp anzuhalten,
welch undenkbare Vorstellung! Also habe ich die Einladung von Freunden
angenommen und bin gleich eine Woche lang geblieben. In Paris gibt
es so viel Wunderbares, dass es mir jedesmal wieder schwer fällt
auszuwählen, was ich diesmal sehen möchte. Ginge es nach meinem Gastgeber
Jean-Luc, einem Kunstgeschichtelehrer, dann hätte ich Anfang der
Woche einen Stundenplan ausgehändigt bekommen, damit ich mich an
so vielem wie möglich von seiner "Das musst Du Dir unbedingt anschauen!-Liste" erfreuen
kann. Zu seiner Verwunderung besuchte ich jeden Tag aber nicht mehr
als eine Ausstellung. Was ich nämlich in Paris am liebsten mache,
ist, herumzustrawanzen.
Die österreichischen LeserInnen wissen nun genau, welchem Lebensgefühl
ich da huldigen mag, für diejenigen, die des Österreichischen nicht
mächtig sind: "strawanzen" meint so etwas wie "ohne eigentliches
Ziel herumgehen, aber auf ein Abenteuer aus sein". Nun gibt es verschiedene
Abenteuer, auf die man aus sein kann, aber der Grundtenor des Strawanzens
ist wohl der, so lange herumzuwandern, bis man irgendwo hinkommt,
wo etwas los ist, das einen interessiert und an dem man teilhaben
kann. Wenn ich also durch Paris strawanze, dann ist dies kein "Flanieren",
dem immer ein gewisses Unbeteiligtsein anhaftet, sondern dann schlendere
ich durch die Stadt mit der hoffnungsvollen Erwartung: Was begegnet
mir wohl heute?
Prompt erlebte ich in Paris jeden Tag etwas Besonderes. So z. B
im Institut du Monde Arabe. Nachdem ich mir eine exzellente Ausstellung über
Malerei in Algerien angesehen hatte, wollte ich im Restaurant auf
dem Dach, dessen Blick über ganz Paris mein Stadtführer pries, noch
einen Tee trinken. Im Gewirr der vielen Glaswände war der richtige
Eingang nicht leicht zu finden. Als ich - eh schon zögerlich - durch
eine Tür eintreten wollte, fragte mich der Securitytyp, ob ich eine
Einladung hätte. Ich verneinte. "Leider Madame, ohne Einladung dürfen
Sie hier nicht hinein", erwiderte er bestimmt. Bevor ich ihm jedoch
erklären konnte, dass ich nur den Eingang ins Restaurant suchte,
fragte mich eine hinzukommende Dame, ob ich hier die Tanz- und Gesangsvorstellung
der Kinder der arabischen Schule besuchen möchte. Nein, ich wollte
bloss einen Tee auf der Terrasse trinken und habe mich in der Tür
geirrt, versicherte ich. Ach so, ja aber einen Tee könne ich auch
noch später nehmen, und wenn ich Lust hätte, mir mit ihr jetzt die
Kinderaufführung anzusehen, dann lade sie mich hiermit gerne ein.
Etwas perplex, aber doch sehr erfreut, nahm ich an. Energisch drehte
sich die quirlige kleine Madame auf dem Absatz um und teilte dem
Türsteher strahlend mit, dass ich ihr Gast sei. Dieser liess sich
davon nicht beeindrucken. Meine neue Bekannte schickte einen Wortschwall
hinauf zu dem zwei Köpfe grösseren Mann, den dieser zuerst bloss
mit einem höflich bedauernden Lächeln quittierte bevor er nicht minder
wortreich auf seiner Liste der angemeldeten Gäste beharrte. Mir wurde
dabei zunehmend unangenehm und ich bat Sie, sich doch meinetwegen
keine solchen Umstände zu machen. "Bleiben Sie, das schaffe ich schon",
entgegnete sie bestimmt, schüttelte ihre rabenschwarzen Locken und
sagte allen Ernstes zum Türsteher: "Nun ist meine Freundin extra
aus - Woher kommen Sie, Madame?" - "Aus der Schweiz." ".. aus der
Schweiz angereist, um meine Tochter hier auftreten zu sehen! Das
kann doch nicht wahr sein, dass sie nun nicht eintreten darf!" Der
Türsteher, der unsere vorangehende Unterhaltung Wort für Wort mitbekommen
hatte, blieb ablehnend. Während des immer lauter werdenden Wortwechsels
trafen die sehr wohl eingeladenen Schwiegereltern der Dame ein (ich
wurde auch ihnen als Freundin vorgestellt), die Schwiegermama erkundigte
sich schon besorgt, ob die kleine Laila denn sehr aufgeregt sei,
der Schwiegerpapa schielte in Richtung Buffet, alle drängten hinein - und
plötzlich nickte der Türsteher gnädig mit dem Kopf und wünschte mir
viel Vergnügen!
Ich war drinnen und mir dämmerte, dass ich Mitten in Paris unversehens
im Orient gelandet war. Der ganze Disput beruhte nicht auf einer
ernstgemeinten Ablehnung, sondern war wie das Feilschen am Basar
einfach eine kulturelle Gepflogenheit, die es zu absolvieren galt.
Die Mädchen - allesamt in Taftkleidern und mit Schleifen in den
Haaren - sangen und tanzten mit konzentrierter Begeisterung, die
Buben wandten ihre schwitzigen Hände und überspielten gelegentliche
Patzer mit einem entschuldigenden Lausbubenlachen. Die anwesenden
Eltern waren aufgeregt, die Grosseltern noch mehr. Auf dem Buffet
stapelten sich Obst und orientalische Süssigkeiten, die durchzukosten,
mir charmant aber nicht weniger dringlich nahegelegt wurde. Willig
fügte ich mich, während meine Begleiterin von ihrer Kindheit in Algerien
erzählte, mich dazwischen ihrem Mann und sogar noch der der Schulleiterin
vorstellte. Ich bedauerte einmal mehr mein schlechtes Französisch,
das mir nur erlaubte zu sagen, wie wunderschön und interessant ich
alles fand. So gern hätte ich auf ihre Freundlichkeit und all das
Gebotene adäquat reagiert. Doch wundersamerweise gelang dies auch
ohne die passenden Worte, denn sie freute sich merkbar über meine
staunend begeisterten Augen. Mein Offensein für spontane Begegnungen
und meine Lust, ziellos durch Paris zu strawanzen, hatten ausgereicht,
schon schenkte mir eine völlig Unbekannte einen zauberhaften Nachmittag
in der arabischen Schule.
Und so kam es, dass ich wirklich jeden Abend zu Hause bei meinen
Freunden nicht nur von einer Ausstellung berichten, sondern auch
die Geschichte einer interessanten Begegnung schildern konnte. "Ja,
Paris ist eine weltoffene Stadt", schmunzelten Jean-Luc und Chris
stolz und freuten sich mit mir.
Zu Hause in Zürich sind solche Begegnungen viel seltener. Ob es
an dem zwinglianischen Charakter dieser Stadt und seiner BewohnerInnen
liegt? Ich glaube nicht. Vergangenen Sonntag wollte ich die Georgia
o’Keeffe Ausstellung im Kunsthaus besuchen. Und plötzlich dachte
ich mir: "Mach es wie in Paris! Geh nicht durch die Stadt, die Dir
so vertraut ist, als würdest Du alles kennen, sondern geh strawanzen!
Schau erwartungsvoll, was hinter jeder Ecke sein könnte. Sprich einfach
Leute an, wie Du es auf Reisen immer tust, weil Du neugierig bist,
was dann als nächstes passiert."
Jemand anzusprechen erwies sich schon an der Tramhaltestelle als
pure Notwendigkeit, denn meine Münzen reichten für ein Billet nicht
aus und die Hunderternote in meinem Portemonnaie war zum Wechseln
denkbar ungeeignet. Neben mir stand eine fröhlich dreinblickende
Frau in meinem Alter, die ich couragiert fragte, ob sie mir wohl
ein paar Münzen schenken würde. Das tat sie. Bis zum Bellevue fanden
wir einander so sympathisch, dass wir die Telefonnummern austauschten,
um uns bald wiedersehen zu können. Vergnügt betrachtete ich wenig
später die wundervollen Bilder o’Keeffes, aber nicht nur die. Und
eh ich mich versah, fand ich mich vor einem ihrer "Knochen in der
Wüste"-Bilder in einem Gespräch wieder, das sich so gar nicht knochentrocken
anliess, sondern vielmehr überraschende Blüten trieb.
Am 22. November hat die Sonne vom Skorpion in den Schützen gewechselt.
Erleichtert lassen jetzt so manche das Grübeln über Tiefschürfendes
sein, folgen satt dessen der Abenteuerlust weckenden Schützesonne
und träumen von warmem Licht und fernen Ländern. Während meine Freundin
Britta die Tage bis zum Abflug nach Fiji zählt, verreise ich zu Hause
und strawanze in meiner Freizeit durch Zürich. Plötzlich strahlt
der graue Sandstein der Häuser viel freundlicher und zarte Lichtreflexe
tanzen über der Limmat, auch wenn der Nebel dick über der Stadt hängt.
© Barbara
Hutzl-Ronge / Astrodienst AG 12/2003 |